Chile
Durch einen Wandschirm abgetrennt nahm Ernestina Pérez Barahona 1888 an den Medizinvorlesungen an der Friedrich Wilhelm, heute Humboldt Universität, in Berlin teil. Ein reguläres Medizin-Studium für Frauen war in Deutschland erst ab 1899 möglich, allerdings besuchte Ernestina Pérez Barahona die Vorlesungen nicht als Studentin, sondern als promovierte Ärztin, denn 1888 hatte sie in Chile bereits ihren Abschluss in der Tasche. Und sich erfolgreich gegen eine Cholera-Epidemie in Valparaíso eingesetzt.
Nicht nur im Vergleich zu europäischen Ländern, sondern auch zu den südamerikanischen Nachbarstaaten, öffneten sich die Bildungszugänge für Frauen in Chile relativ früh. Die konservative autoritäre Regierung unter Aníbal Pinto erließ 1877 einen Erlass, wonach „Frauen zu Prüfungen zuzulassen seien, die zur Verleihung desselben beruflichen Status führen, wie er bei gleicher Qualifikation Männern erteilt wird.“
Liberale Ideen, die in Chile Fuß gefasst hatten, spielten eine Rolle, aber für die Entwicklungschancen der Frauen und Mädchen in Chile war auch von Gewicht, dass neue Einwanderergenerationen aus Spanien, Italien, Deutschland eine bessere Zukunft für ihre Familien suchten, und vor allem, dass Frauen während mehrerer kriegerischer Auseinandersetzungen die Arbeiten von Männern übernahmen und sie oft auch behielten, als die Männer zurückkehrten, da ein ökonomischer Aufschwung viele Arbeitskräfte verlangte.
Auch wenn die patriachalen und konservativ-katholischen Strukturen weiter den Alltag in Chile dominierten und die Theorie einer beruflichen Gleichstellung torpedierten, meldeten die bürgerlich-wohlhabenden Frauen früh ihren Anspruch auf politische Teilhabe an. Bei der Präsidentschaftswahl 1875 traten Frauen in San Felipe und La Serena vor die Wahlurnen und verlangten ihr Wahlrecht, schließlich hatten im Vorjahr „alle Chilenen“ (chilenos, genericamente), die Lesen und Schreiben können, das Wahlrecht erhalten und die gültige Verfassung von 1833 sah keinen Geschlechterausschluss vor.
Ein Resultat dieses Versuchs war eine Gesetzesänderung 1884, wonach nur „männliche Chilenen“ (chilenos varones) zu Wahlberechtigten erklärt wurden, ein anderes, dass sich die Emanzipationsbewegung zunächst auf andere Themen konzentrierte.
„Mein Jurastudium hat mich von der rechtlichen Minderwertigkeit der Frauen überzeugt. Die Notwendigkeit, diese Diskriminierung zu beenden, hat mich zu einer Feministin gemacht“ Elena Caffarena
Im Jahr ihres Jura-Abschlusses 1926 war die damals 23-jährige Elena Caffarena, Tochter einer italienischen Einwandererfamilie, erst die 15. Anwältin in der chilenischen Geschichte. Als Studentin engagierte sie sich im kostenlosen Rechtsberatungsdienst, erstritt Rechte für ausgebeutete Hausarbeiterinnen und bewegte mit ihren Argumenten die chilenische Rechtssprechung hin zu einer frauengerechteren.
Elena Caffarena, die sich selbst als gemäßigte Sozialistin bezeichnete, war wie andere Frauen überzeugt, dass es Selbstorganisationen braucht, um gesellschaftliche Veränderungen voranzubringen. Auch für die Erreichung des Frauenwahlrechts war eine der wichtigsten Organisationen die Movimiento Pro-Emancipación de las Mujeres de Chile/MEMCh, die von Elena Caffarena 1935 mitbegründet wurde und deren erste Generalsekretärin sie war.
Doch schon vor der Emanzipationsbewegung MEMCh gab es in Chile nicht nur Lesezirkel der weiblichen universitären Eliten, sondern auch kommunistische Frauenzentren im Salpeterabbaugebiet im Norden, Frauengewerkschaften und in den 1920er Jahren einige politische Frauen-Parteien.
Da viele der sozial und politisch aktiven Frauen konservativ-katholisch ausgerichtet waren, war es die Konservative Partei, die sich als erste für die Einführung des (kommunalen) Frauenwahlrechts einsetzte. Die skeptische Haltung des Mitte-Links-Lagers sollte bei der ersten Wahl an der Frauen 1935 kommunal ihr Wahlrecht ausüben konnten, bestätigt werden: die Konservative Partei profitierte am meisten von den Stimmen der Frauen. Den Durchbruch zum nationalen Wahlrecht erreichte MEMCh mit 42 lokale Komitees von Arica nach Valdivia, kontinuierlichen Kampagnen und einem breiten Frauen-Bündnis in den 1940er Jahre.
Bei der Staatsfeier zur Einführung des Frauenwahlrechts am 8.1.1949 wurde Elena Caffarena, aus deren Feder das Gesetz stammte, ausgeladen und wenige Tage später wurden ihr auf Grundlage anti-kommunistischer Gesetze außerdem die Bürgerrechte und damit auch das Wahlrecht entzogen. Caffarena blieb ihrer eigenen Linie treu, auch unter der folgenden Pinochet-Diktatur. Als ihre Wohnung vom Militär durchsucht wurde, sagte sie: „Also, Leute, ich werde in meinem Zimmer sein und ich möchte nicht gestört werden. Ich empfehle Ihnen, vor dem Verbrennen die Bücher zu lesen …“